Sturz beim Fensterln als Arbeitsunfall?

12. März 2022

Stuttgart/Berlin (DAV). Ein Arbeitsunfall liegt vor, wenn man sich in Zusammenhang mit einer versicherten Tätigkeit als Arbeitnehmer verletzt. Stürzt ein Jugendlicher bei einem vom Ausbildungsbetrieb durchgeführten Einführungsseminar vom Dach einer Jugendherberge, liegt ein Arbeitsunfall vor. Dies auch dann, wenn er in der Nacht über das Dach zum Mädchenquartier wollte. Dies ist Teil eines gruppendynamischen Prozesses unter Jugendlichen und Ausdruck alterstypischer Unreife eines 17jährigen Auszubildenden, den gemeinsamen Abend fortzusetzen.

Zumal, wenn der Flur durch eine Aufsichtsperson überwacht wird. Das Rechtsportal anwaltauskunft.de informiert über eine Entscheidung des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 14. Dezember 2021 (AZ: L 9 U 180/20).

Der lernbehinderte 17-jährige Kläger begann im September 2014 eine durch die Bundesagentur für Arbeit geförderte Ausbildung zum Fachpraktiker Hauswirtschaft. Im November 2014 fand in der Jugendherberge eine dreitägige Einführungsveranstaltung für die Auszubildenden aus verschiedenen Bereichen mit insgesamt 11 Auszubildenden statt. Der Kläger war der einzige junge Mann seiner Ausbildungsgruppe. Am ersten Abend besuchte der Kläger erlaubter maßen die drei Mädchen im Nachbarzimmer. Es wurde „Blödsinn gemacht, Musik gehört und gequatscht“, auch heimlich Alkohol konsumiert. Der Kläger trank zwei Wodka Orange, woraufhin später 0,5 Promille festgestellt wurde. Gegen 23 Uhr schickte der Betreuer die Teilnehmer auf ihre Zimmer.

Der Kläger folgte zwar dieser Aufforderung, kündigte den Mädchen jedoch an, über das Dach zurückzukommen. Diese hielten seine Ankündigung für einen Spaß. Mindestens eine Teilnehmerin sagte zum Kläger, dass er „das sowieso nicht machen“ werde. Der Betreuer kontrollierte die Einhaltung der Bettruhe etwa gegen 23.30 Uhr und hielt sich auch weiterhin zeitweise im Flur auf. Nach einer Kontrolle stand der Kläger auf und kletterte auf das Dach, um auf diesem Weg zum Mädchenzimmer zu gelangen. Als er den Halt verlor, stürzte aus etwa 8 m Höhe auf den Boden. Er erlitt mehrere Brüche, u.a. im Bereich des linken Oberarms, des Beckens und der Wirbelsäule. Nach diversen Operationen ist sein linker Arm massiv bewegungseingeschränkt.

Nachdem die Berufsgenossenschaft den Sturz zunächst noch als Arbeitsunfall anerkannt und einen Vorschuss von 2.600 € zahlte, verlangte sie später das Geld zurück. Es läge kein Arbeitsunfall vor. Der Versuch ins benachbarte Mädchenzimmer zu klettern, stehe grundsätzlich in keinem Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit als Teilnehmer der Ausbildung. Dies sei dem privaten unversicherten Bereich zuzuordnen. Hinzu komme, dass der Kläger alkoholisiert gewesen sei; es sei bekannt, dass auch bei Erwachsenen Hemmschwellen und Gefahrenbewusstsein bei zunehmendem Alkoholspiegel abnähmen.

Die Klage des jungen Mannes war erfolgreich. Das Gericht verpflichtete die Berufsgenossenschaft, den Unfall als Arbeitsunfall anzuerkennen.

Teilnehmer an einer von der Bundesagentur für Arbeit geförderten Ausbildungsmaßnahme sind bei „allen Verrichtungen während des Einführungsseminars unfallversichert, die in innerem Zusammenhang mit der Ausbildung standen“. Das Klettern über das Dach der dreistöckigen Jugendherberge in Richtung des benachbarten Mädchenzimmers, gehörte nach Auffassung des Gerichts dazu. Ein innerer Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit läge vor. Der Versicherungsschutz sei nicht dadurch aufgehoben, dass sich der Kläger – objektiv betrachtet – in hohem Maße unvernünftig und gefahrbringend verhalten habe. Sein Sturz sei „Folge seiner altersbedingten Unreife und eines für Jugendliche seines Alters typischen gruppendynamischen Prozesses“ gewesen.

Für das Gericht war es nachvollziehbar und gruppentypisch, dass der jugendliche Kläger den Wunsch verspürt habe, den Abend „zu verlängern“. Dass er den Flur vermeiden wollte, sei insoweit ebenfalls einem gruppendynamischen Prozess entsprungen. Er sei durch die Äußerung der Mädchen („das machst du sowieso nicht“) in Zugzwang geraten. Auch habe eine Betreuerin ihm im Kreis seiner Kolleginnen das Streben nach „Coolness“ („Hahn im Korb“) attestiert. Das Klettern über das Dach sei zwar unvernünftig und leichtsinnig, aber nicht komplett fernliegend gewesen. Die Selbstüberschätzung, das Mädchenzimmer unfallfrei über das Dach zu erreichen, sei jugendtypisch und unter Berücksichtigung des konkreten Sachverhalts auch nicht völlig vernunftwidrig.

Auch der Alkoholkonsum änderte nichts an der Beurteilung. Dieser war zwar nach der Hausordnung der Jugendherberge verboten, ließ aber den Versicherungsschutz ebenfalls nicht entfallen, so das Gericht. So habe keiner der vernommenen Zeugen den Kläger als betrunken beschrieben. Auch im Krankenhaus sei er als ansprechbar, orientiert und lediglich leicht alkoholisiert wirkend eingeschätzt worden. Besondere Auswirkungen einer Alkoholisierung seien damit nicht dokumentiert.

Quelle und Informationen: www.anwaltauskunft.de


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