Mit Urteil vom 24.08.2023 hat die 2. Kammer des Verwaltungsgerichts Göttingen auf Antrag eines Vaters festgestellt, dass die Inobhutnahme eines damals 11-jährigen Kindes im Jahr 2020 rechtswidrig war (2 A 107/22).
Das heute 14-jährige Kind leidet u.a. an Störungen des Sozialverhaltens, Entwicklungsstörungen und unterdurchschnittlichen Lern- und Leistungsmöglichkeiten. Seit dem Jahr 2019 ist ihm Pflegegrad 3 und ein Grad der Behinderung von 50 zuerkannt. Seit November 2022 liegt der Grad der Behinderung bei 70. Die Eltern des Kindes trennten sich in den Jahren 2018 / 2019 und streiten seitdem um das Sorge- und Umgangsrecht. Dem Vater wurden mit Beschluss des Amtsgerichts Göttingen vom Juli 2020 wesentliche Teile des Personensorgerechts entzogen, nämlich das Aufenthaltsbestimmungsrecht, die Gesundheitssorge und das Recht, Jugendhilfeanträge zu stellen. Diese Rechte wurden allein der Mutter übertragen. Im September 2020 stand dem Vater zeitweise kein Umgangsrecht zu. Im Oktober 2022 übertrug das Amtsgericht Northeim den Eltern die Gesundheitssorge wieder gemeinsam.
Seit 2017 bewilligte die Stadt Göttingen (Beklagte) immer wieder Hilfen nach dem Kinder- und Jugendhilferecht (Tagesgruppe, Heimerziehung, Schulbegleitung; §§ 27 ff. und 35a Achtes Buch Sozialgesetzbuch – SGB VIII). Anfang September 2020 nahm sie das Kind mit Einverständnis der Mutter in Obhut (§ 42 SGB VIII). Die Inobhutnahme ist eine vorläufige Maßnahme zum Schutz von Kindern und Jugendlichen, eine sozialpädagogische Krisenintervention. Sie beinhaltet eine vorübergehende Schutzgewährung sowie eine weiterführende Klärungshilfe. Mit Bescheiden vom November 2020 gewährte die Beklagte für das Kind Hilfe zur Erziehung in Form der Heimerziehung (§§ 27, 34 SGB VIII); nach dem Wortlaut der Bescheide rückwirkend auf den Tag der Inobhutnahme. Mitte August 2022 wurde diese Hilfe beendet. Nach kurzer Unterbrechung folgten weitere Hilfen.
Mit seiner im April 2022 erhobenen Klage wollte der Vater des Kindes (Kläger) insbesondere festgestellt wissen, dass die damalige Inobhutnahme rechtswidrig war. Diesem Antrag folgte die Kammer.
Der Kläger sei klagebefugt. Er habe ausreichend Tatsachen vorgetragen, die es als möglich erscheinen ließen, dass er durch die Inobhutnahme des Kindes in eigenen Rechten, nämlich seinem grundrechtlich geschützten Elternrecht (Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG) verletzt sei. In der Rechtsprechung werde zwar vertreten, dass eine Verletzung in eigenen Rechten nicht möglich erscheine, wenn den Eltern – wie hier – das Aufenthaltsbestimmungsrecht entzogen sei. Dieser Auffassung folgte die Kammer im vorliegenden Fall nicht, da nach dem Ergebnis der mündlichen Verhandlung nicht klar sei, wie lange die Inobhutnahme angedauert habe. Das Kind sei für einen Zeitraum von bis zu gut zwei Monaten vollständig der tatsächlichen Einflussnahme und den Gestaltungmöglichkeiten des erziehungsberechtigten Klägers entzogen gewesen. Dass in diesem Zeitraum keine Entscheidungen getroffen worden wären, die beim Kläger verbliebende Teile der elterlichen Sorge betroffen hätten (etwa die Art der Beschulung), sei nicht denkbar.
Die Klage sei auch begründet, da die Inobhutnahme nicht erforderlich gewesen sei. Die Erforderlichkeit sei nur dann gegeben, wenn allein die Inobhutnahme das Kindeswohl sichern könne und andere, weniger einschneidende Maßnahmen nicht zur Verfügung stünden. Vorliegend hätte es für eine Fremdunterbringung keiner Inobhutnahme bedurft. Denn die Kindesmutter, die das alleinige Aufenthaltsbestimmungsrecht und auch das Recht, Jugendhilfeanträge zu stellen sowie die Gesundheitssorge innehatte, sei mit einer Fremdunterbringung einverstanden gewesen.
Die Feststellung der Rechtswidrigkeit der Inobhutnahme vom September 2020 habe keine unmittelbaren Konsequenzen für die anschließend getroffenen und in Zukunft noch zu treffenden Entscheidungen über weitere Hilfeleistungen.
Die schriftlichen Urteilsgründe liegen noch nicht vor. Die Entscheidung wird danach in den bekannten Datenbanken veröffentlicht werden. Die Entscheidung ist noch nicht rechtskräftig. Dagegen kann innerhalb eines Monats nach Zustellung ein Antrag auf Zulassung der Berufung bei dem Nds. Oberverwaltungsgericht in Lüneburg gestellt werden.
In den letzten zwei Jahren hatte das Verwaltungsgericht Göttingen lediglich vier weitere Verfahren zu entscheiden, in denen sich Beteiligte gegen eine Inobhutnahme wandten. Alle haben sich ohne streitige Entscheidung erledigt. Ein Verfahren ist noch anhängig.
Quelle: Verwaltungsgericht Göttingen