Die Klägerin ist Umweltaktivistin und hat bereits an einer Vielzahl von politischen Protesten teilgenommen. Sie erlangte dabei öffentliche Bekanntheit durch ihre Kletter- und Abseilaktionen, die sie auch im Bereich der Bahnanlagen des Bundes durchführte.
Neben ihren eigenen Protestaktionen ist die Klägerin aber auch journalistisch tätig und berichtet über die Protestaktionen anderer Personen. Zudem vermittelt sie ihr Wissen über das Protestklettern in Form von Vorträgen, Kursen und Beiträgen in den sozialen Medien und stellt hierzu Videobeiträge und schriftliche Erläuterungen bereit.
Im Hinblick auf die Kletter- und Abseilaktion schrieb die Beklagte die Klägerin im Zeitraum vom 29. Januar 2020 bis zum 29. Januar 2021 und – nach Verlängerung – vom 29. Januar 2021 bis zum 29. Januar 2022 zur Fahndung nach § 30 Abs. 5 des Bundespolizeigesetzes (BPolG) zum Zweck der Personenkontrolle aus. Diese Fahndungsausschreibungen hatten zur Folge, dass die Klägerin im polizeilichen Informationssystem INPOL eingetragen wurde und bei jeder polizeilichen Kontrolle die Polizeibeamten über INPOL auf die Klägerin hingewiesen worden sind. Nach dem Vorbringen der Klägerin führte dies dazu, dass sie jedes Mal viel länger und gründlicher kontrolliert worden ist als die sie begleitenden Personen.
Im Jahr 2020 sollte ein CASTOR-Transport aus dem britischen Sellafield nach Biblis stattfinden. Dieser wurde aufgrund der Covid-19-Pandemie mehrfach verschoben. Schließlich sollte er Anfang November 2020 stattfinden. Hierüber berichtete die Klägerin auf ihrer Homepage und wies darauf hin, dass Aktionen im Rahmen des Castortransports in Planung seien. Deshalb ordnete die Beklagte unter dem 22. Oktober 2020 die längerfristige Observation der Klägerin für die Dauer von zwei Wochen (befristet bis zum Ende des Nukleartransportes) unter Einsatz technischer Mittel zur Anfertigung von Bildaufnahmen und -aufzeichnungen, gestützt auf § 28 BPolG, an.
Zur Begründung gab die Beklagte an, dass die Klägerin bereits mehrfach mit Kletter- und Abseilaktionen im Bahnbereich aufgetreten sei. Daher müsse davon ausgegangen werden, dass sie anlässlich des Nukleartransports eine oder mehrere Blockadeaktionen vorbereite. So habe sie sich am Vormittag des 5. Oktober 2020 zusammen mit einer weiteren Aktivistin von einer Autobahnbrücke der BAB1 bei Münster (NRW) bis kurz vor den sog. Regellichtraum einer darunter führenden Bahntrasse abgeseilt und somit mehrere Stunden lang einen bahnseitigen Transport von Nuklearmaterial aus einer Wiederaufbereitungsanlage aus Gronau (NRW) verzögert.
Nach Kenntniserlangung der Observation und der Fahndungsausschreibungen hat die Klägerin am 22. September 2021 gegen ihre Observation und am 15. Februar 2022 gegen die Fahndung Klage erhoben. Zur Begründung trägt sie vor: Beide Maßnahmen seien rechtswidrig gewesen. Es hätten keinerlei Anhaltspunkte für das Vorliegen einer Gefahr bzw. für das Vorliegen von Straftaten von erheblicher Bedeutung vorgelegen. Zudem hätten der Beklagten keine Tatsachen in Bezug auf irgendwelche konkreten Planungen von Aktionen vorgelegen. Sie – die Klägerin – habe nicht bei jedem CASTOR-Transport Aktionen durchgeführt und Abseilaktionen teils nur journalistisch sowie dokumentarisch begleitet. Würden allein die in der Vergangenheit durchgeführten Kletteraktionen ausreichen, könnte sie zukünftig in jedem Zeitraum observiert werden, in dem ein politischer Anlass für Protest in den Bereichen bestehe, in denen sie sich engagiere.
Die Beklagte verteidigt ihre Maßnahmen. Die Observation sei zur Abwehr einer konkreten Gefahr für Leib und Leben sowohl der Klägerin als auch der vor Ort eingesetzten Einsatzkräfte sowie zur Verhütung von Straftaten erforderlich gewesen. Sie habe aufgrund der vorgetragenen Erkenntnisse von einer Aktion der Klägerin ausgehen müssen. Die Klägerin habe auf ihrer Internetseite auf den Nukleartransport nach Biblis hingewiesen und Widerstand angekündigt.
Die 10. Kammer hat mit Urteilen vom heutigen Tag entschieden, dass die Observation und Fahndungsausschreibung rechtswidrig waren.
Nach Auffassung der Kammer ist die Rechtsgrundlage, auf welche die Beklagte die Observation gestützt hat (§ 28 Abs. BPolG), verfassungswidrig. Für eine längerfristige Observation ist nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts wegen der Schwere des Eingriffs ein Richtervorbehalt notwendig. Entsprechend sieht ein neuer Referentenentwurf des Bundesministeriums des Innern und für Heimat (BMI) aus Mai 2023 vor, die in § 28 BPolG getroffene Observationsregelung einem Richtervorbehalt zu unterwerfen. Die Kammer hat davon abgesehen, das Verfahren dem Bundesverfassungsgericht zur Entscheidung vorzulegen; dies müsste sie nur tun, wenn es auf die Gültigkeit des § 28 BPolG ankäme. Dies ist aber nicht der Fall, weil auch die Voraussetzungen der Vorschrift im vorliegenden Fall nicht erfüllt sind.
Die Kammer hat schon Zweifel daran, dass eine konkrete Gefahr für Leib und Leben vorgelegen hat. Die Klägerin hat in der Vergangenheit stets darauf geachtet, Bereiche in der Nähe von elektrifizierten Oberleitungen zu meiden; zudem dürfte die Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts im Hinblick auf die Kletterfertigkeiten der Klägerin und etwaiger Einsatzkräfte äußerst gering sein. Die Kammer konnte die Frage letztlich offenlassen, da als mildere Maßnahme eine offene Observation in Frage gekommen wäre. Es war nicht erforderlich, die Klägerin verdeckt zu beobachten, da die Beklagte ihr Ziel – die Klägerin rechtzeitig an Abseilaktionen zu hindern – auch bei einer offenen Observation erreicht hätte.
Die auf § 30 Abs. 5 BPolG gestützten Fahndungsausschreibungen sind ebenfalls rechtswidrig. Zwar kann die Norm als verfassungsgemäß angesehen werden. Die Beklagte hat aber die Reichweite der Norm nicht beachtet. Sie geht unzutreffend davon aus, dass die Vorschrift sie auch dazu ermächtigt, eine Rückmeldung von den Polizeibeamten zu verlangen, die die Klägerin antreffen. Die Vorschrift stellt keine Rechtsgrundlage für die Erstellung eines Bewegungsprofils dar, sondern soll nur die eine Kontrolle durchführenden Beamten sensibilisieren.
Die Entscheidungen sind noch nicht rechtskräftig. Gegen die Urteile kann die Zulassung der Berufung beim Niedersächsischen Oberverwaltungsgericht in Lüneburg beantragt werden.
Az. 10 A 5471/21 und 10 A 602/22
Quelle: Verwaltungsgericht Hannover