Kommentierte Gerichtsentscheidungen – Teil 31

20. Februar 2021

Verwaltungsgericht Hamburg, Beschluss vom 27. Juni 2020 (13 E 3104/20). Zur Rechtmäßigkeit der von einem Jugendamt vorgesehenen Inobhutnahme eines noch ungeborenen Kindes gemäß § 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2b) SGB VIII, weil eine dringende Gefahr für das Kindeswohl zu erwarten ist, wenn das Kind nach der Entbindung bei seiner Mutter verbleiben würde, und eine rechtzeitige Entscheidung des Familiengerichts nicht eingeholt werden kann.

Dies gilt gerade dann, wenn die beiden von dieser werdenden Mutter bereits geborenen Söhne im frühkindlichen Alter körperliche und seelische Gewalt erfahren haben, deren Schwere und das hiermit für die Kinder jeweils verbundene Leid von der Mutter nicht richtig erfasst wurde. Diese Tatsache kann die amtlicherseits vertretene Einschätzung untermauern, diese Mutter werde auch in Bezug auf das noch ungeborene Kind dessen Bedürfnisse und ggf. bestehende Gefahren nicht zutreffend bewerten können. Bei diesen Gegebenheiten ist der Wille und die Fähigkeit dieser Mutter, stets konsequent zum Wohle ihres Kindes zu handeln – d. h. ihre Erziehungsfähigkeit generell – kritisch zu hinterfragen.

Hier besteht angesichts der bei dieser Mutter feststellbaren Defizite – insbesondere im Bereich der Empathie, der Reflexions- und der Einsichtsfähigkeit – die Gefahr, dass der Säugling ebenfalls keine sichere Bindung wird entwickeln können und hierdurch an seiner seelischen Gesundheit erheblichen Schaden nimmt. Eine familiengerichtliche Entscheidung kann vor der Geburt des neuen Kindes nicht erwirkt werden, weil das Sorgerecht erst mit der Geburt entsteht.

Das aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG ableitbare Elterngrundrecht der werdenden Mutter hat in dieser Situation angesichts der für die körperliche und seelische Gesundheit des Kindes drohenden Gefahren zurückzutreten. Gerade bei einem Neugeborenen kommt ein Abwarten und eine weitere Beobachtung der Situation nicht in Betracht, weil auch in einer Mutter-Kind-Einrichtung kein ausreichender Schutz gewährleistet werden kann.

LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 21. Januar 2021 (L 7 AS 5/21.B.ER):

Das Selbstverständnis des in § 67 Abs. 2 SGB II geregelten „vereinfachten Verfahren“ besteht in einer hierdurch bewirkten Begünstigung von Antragstellern, die infolge pandemiebedingter Einkommenseinbußen Leistungen nach den §§ 19 ff. SGB II beantragen.

Ein Vermögen im Sinne des § 12 Abs. 1 SGB II ist erst dann als erheblich im Sinne des § 67 Abs. 2 Satz 2, 1. Halbsatz SGB II aufzufassen, wenn die entsprechenden Mittel derart deutlich über der Vermögensfreigrenzen nach § 12 Abs. 2 SGB II liegen, so dass die Gewährung existenzsichernder Leistungen als ungerechtfertigt aufgefasst zu werden hat.

Dies kann im Einzelfall allerdings durchaus bedeuten, dass bei einem ansehnlichen Betriebsvermögen ein über EUR 60.000,- liegendes Vermögen als unerheblich eingeschätzt werden kann, während bei einer arbeitslos bei ihren bedürftigen Eltern lebenden Antragstellerin eine deutliche Erhöhung der Vermögensfreibeträge nach § 12 Abs. 2 SGB II sich als nicht geboten darstellt.

Eine pauschale Übertragung von im Wohngeld vertretenen Vermögensfreigrenzen auf das Recht der Grundsicherung für Arbeitsuchende lässt sich nicht vertreten. Im Recht der öffentlichen Fürsorge bedarf es stets einer eingehenden Prüfung und sachgerechten Würdigung der den jeweiligen Einzelfall maßgeblich prägenden persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse von Antragstellern.

Sozialgericht Berlin, Beschluss vom 27. Januar 2021 (S 169 KR 2465/20.ER):

Bei gesetzlich krankenversicherten Personen, die von ihrem Krankenversicherungsträger gemäß § 37 Abs. 1 SGB V Leistungen zur häuslichen Krankenpflege erhalten, hat die gesetzliche Krankenkasse nach § 37 Abs. 4 SGB V einem multimorbiden, bedürftigen Versicherten ebenfalls die Kosten für eine notwendige Ausstattung der von ihm selbstbeschafften Pflegekräfte mit FFP2-Masken zu erstatten.

Hier war das Tragen von FFP2-Masken von den täglich jeweils für acht Stunden anwesenden, drei Pflegepersonen zum Schutz des Antragstellers vor einer Infektion mit Covid 19 als notwendig einzuschätzen, so dass erwiesenermaßen entstandene Aufwendungen für (maximal) drei FFP2-Masken pro Tag als im Sinne des § 37 Abs. 4 SGB V angemessene Kosten vom Träger der gesetzlichen Krankenversicherung zu finanzieren waren.

Gerade bei in dieser besonderen Situation sich befindenden Person bedarf es der Sicherstellung eines effektiven Infektionsschutzes ähnlich wie in Pflegeheimen.

Entsprechendes gilt auch in Bezug auf die Übernahme der nachgewiesenen Kosten der Testung des Pflegepersonals auf eine Infektion mit dem Coronavirus mittels eines Point-of-Care-Antigen-Tests, und zwar regemäßig im Abstand von zwei Tagen während der Zeit des pflegerischen Einsatzes.

Im Rahmen der häuslichen Krankenpflege besteht ebenfalls das Risiko des unbemerkten Hineintragens einer entsprechenden Infektion durch das Pflegepersonal.

Bundessozialgericht, Urteil vom 3. September 2020 (B 14 AS 34/19.R):

Aus § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II lässt sich nicht herleiten, dass ein von einem Jobcenter zur Konkretisierung unterkunftsbezogener Kosten gebildetes schlüssiges Konzept der Anforderung zu entsprechen hat, für eine hinreichende Datenrepräsentativität hätte hier außerhalb qualifizierter Mietspiegel stets eine Datenbasis von mindestens zehn v. H. der Wohnungen des in Betracht zu ziehenden Wohnungsmarkts zugrunde gelegt zu werden.

Die an einen „Stichprobenumfang“ zu stellenden Anforderungen sind insbesondere von der Größe und der Struktur des Wohnungsmarkts (homogener oder eher heterogener Wohnungsbestand mit der Folge einer erheblichen Mietendifferenzierung) sowie der konkreten Ausgestaltung des Konzepts abhängig. Wie hoch die letztlich verwertbare Datenbasis im Einzelfall zu sein hat, lässt sich nicht generell, sondern maßgeblich nur in Berücksichtigung des Aspekts beurteilen, wie verlässlich eine entsprechende Stichprobe die Grundgesamtheit abbildet.

Zu den rechtlichen Anforderungen an ein die Voraussetzungen des § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II erfüllendes, schlüssiges Konzept gehört insbesondere, dass hierdurch die Ausbildung von „Brennpunkten“ durch soziale Segregation verhindert wird. Hinsichtlich der Ermittlung der Höhe von Referenzmieten dürfen vom Jobcenter nicht nur „billige“ Stadtteile herausgegriffen werden, sondern es ist hingegen auf die Durchschnittswerte des unteren Mietpreisniveaus im gesamten räumlichen Vergleichsraum abzustellen, sofern in sämtlichen Stadtteilen Wohnungen mit einfachem Wohnstandard vorhanden sind.

Der obere Wert der als dem Angemessenheitskriterium des § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II entsprechenden Mietpreisspanne lässt sich vom SGB II-Träger rechtsfehlerfrei auf der Grundlage von Bestandsdatensätzen der Empfänger von Arbeitslosengeld II (§§ 19 ff. SGB II) und von Hilfe zum Lebensunterhalt (§§ 27 ff. SGB XII) ermitteln.

BSG, Urteil vom 3. September 2020 (B 214 AS 37/19.R):

Für eine durch drei Personen gebildete Bedarfsgemeinschaft im Land Berlin ist in Mietwohnungen eine Wohnfläche von 80 qm als angemessen im Sinne des § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II aufzufassen.
Die gewichteten Mittelwerte der Tabellenwerte des Mietspiegels für einfache Wohnlagen in Berlin bilden in diesem Bundesland die als abstrakt im Sinne des § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II einzuschätzenden Nettokaltmieten nicht ab. Aus der „Überzeugung, dass mit der Einbeziehung der mittleren durchschnittlichen Mietspiegelwerte in gewichteten Anteilen die potenziell zumutbare und damit abstrakt angemessene Kaltmiete am gerechtesten bestimmt werden kann“, ergibt sich keine generelle Verfügbarkeit von Wohnraum für Arbeitslosengeld II erhaltende Personen zu diesem Preisniveau.

BSG, Urteil vom 14. Oktober 2020 (B 4 AS 14/20.R):

Der wegen des Wechsels des Stromversorgers von diesem einer Alg II beziehenden Person gewährte „Sofortbonus“ hat vom Jobcenter als ein gemäß § 11 Abs. 1 Satz 1 SGB II zu berücksichtigendes, einmaliges Einkommen aufgefasst zu werden. Hier handelt es sich um einen bedarfsmindernd anzurechnenden Nettokapitalzufluss, der einem Alg II-Empfänger als ein jederzeit zur Bedarfsdeckung frei einsetzbares Mittel zur Verfügung steht.

Diesem Bonus liegt keine (anteilige) Rückzahlung von bereits entrichteten Pauschalzahlungen für den Strombezug zugrunde, was als eine Einsparung bei einer regelbedarfsrelevanten Position (§ 20 Abs. 1 Satz 1 SGB II: „Haushaltsenergie“) aufzufassen wäre. Dem „Sofortbonus“ fehlt es insbesondere an einer wirtschaftlichen Konnexität zum Stromverbrauch und zu geleisteten Vorauszahlungen, wenn die Auszahlung dieses Betrags bereits wenige Wochen nach Vertragsbeginn und unabhängig von der Höhe des Stromverbrauchs, d. h. keine Verrechnung mit Vorauszahlungen erfolgte. § 22 Abs. 3, 2. Halbsatz SGB II gelangt hier nicht zur Anwendung.

Quelle: Dr. Manfred Hammel


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