LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 22. September 2020 (L 11 AS 415/20.B.ER). Von maßgebender Bedeutung für die Anerkennung von für den Erwerb einer eigengenutzten Wohnimmobilie monatlich fällig werdenden sog. Mietkaufraten als Kosten der Unterkunft im Sinne des § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II ist der Aspekt, ob es sich hier um einen fällig werdenden Mietzins oder um der Vermögensbildung bzw. Schuldentilgung dienende Kaufpreisraten handelt.
Beim Mietkauf liegt ein sog. Mischvertrag mit Elementen des Miet-, des Kauf- und des Leasingvertrags vor.
Wenn bedürftige Bewohner bereits mit notariell beurkundetem Vertrag die Kaufoption ausgeübt und damit den Kaufvertrag über ein von ihnen eigengenutztes Gebäude abgeschlossen haben sowie von dem ihnen eingeräumten Recht Gebrauch machen, den Kaufpreis in der Weise zu zahlen, dass die von ihnen an den bisherigen Eigentümer monatlich zu entrichtenden Beträge hierauf angerechnet werden, dann steht eindeutig der Erwerb dieser Liegenschaft im Vordergrund. Auf dieses Rechtsgeschäft findet einzig das Kaufrecht Anwendung.
Die monatlich aufzubringenden „Mietkaufraten“ sind bei diesen Gegebenheiten vom Prinzip her als der Vermögensbildung dienende Kaufpreisraten aufzufassen, denn diese Zahlungen haben die Zweckbestimmung der Abzahlung der bereits rechtswirksam erworbenen Immobilie.
Diese Tatsache steht der Anerkennung dieses Bedarfs als unterkunftsbezogen im Sinne des § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II entgegen, gerade auch, wenn die eigengenutzte Immobilie von den Antragstellern erst nach dem Beginn des Bezugs von Leistungen nach den §§ 19 ff. SGB II erworben wurde.
Die aus § 67 Abs. 5 Satz 3 SGB II in Bezug auf das Antrags- und Bewilligungsverfahren hervorgehende Sondernorm darf nicht dazu führen, dass ein Jobcenter Leistungen gemäß den §§ 19 ff. SGB II in exakter Kenntnis der Rechtswidrigkeit der Hilfegewährung weiterbewilligt.
Sog. Mietkaufraten, die der Vermögensbildung dienen, können auch auf dieser Grundlage in einem neu beginnenden Bewilligungszeitraum vom Jobcenter nicht als Kosten der Unterkunft auf der Grundlage des § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II anerkannt und finanziert werden.
LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 29. September 2020 (L 11 AS 508/20.B.ER):
Die in Bezug auf unterkunftsbezogene Kosten aus § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II hervorgehende Angemessenheitsgrenze wird durch § 67 Abs. 3 Satz 1 SGB II vorübergehend ausgesetzt, auch wenn weder die Hilfebedürftigkeit (§ 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB II in Verbindung mit § 9 Abs. 1 SGB II) noch der von leistungsberechtigten Personen durchgeführte Umzug (§ 22 Abs. 4 und 6 SGB II) direkt und unmittelbar auf die Corona-Pandemie zurückzuführen ist. Eine Ursächlichkeit zwischen dem Eintritt der Hilfebedürftigkeit und der epidemischen Lage ist nicht erforderlich.
Es handelt sich hier um eine unwiderlegbare Fiktion; festgeschrieben wird dort die Obliegenheit des SGB II-Trägers zur Übernahme der tatsächlichen Kosten für Unterkunft und Heizung für die Dauer von sechs Monaten.
§ 67 Abs. 3 Satz 1 SGB II ist nicht nur auf den Fall der von bedürftigen Personen bereits seit längerer Zeit bewohnten Immobilie anwendbar.
Diese Norm bewirkt auch keine Modifikation des § 22 Abs. 4 SGB II. Alles andere stünde im Widerspruch zum in § 67 Abs. 3 Satz 1 SGB II zum Ausdruck gelangenden gesetzgeberischen Willen, die Deckelung der geltend gemachten Kosten der Unterkunft auf die Angemessenheitsgrenze nach § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II vorübergehend auszusetzen.
Die in § 67 Abs. 3 Satz 3 SGB II eingebaute Ausnahmevorschrift ist nicht einschlägig, sofern der SGB II-Träger weder in Bezug auf die bisherige noch auf die gegenwärtige Unterkunft ein Kostensenkungsverfahren entsprechend § 22 Abs. 1 Satz 3 SGB II eingeleitet hat.
Sozialgericht Dortmund, Beschluss vom 7. Oktober 2020 (S 38 AS 3803/20.ER):
Zur Verneinung einer eheähnlichen Gemeinschaft gemäß § 7 Abs. 3 Nr. 3c SGB II, wenn die im gleichen Gebäude wie der Vater des gemeinsamen Kindes lebende Antragstellerin dort über eine eigene, vollständig eingerichtete Wohnung verfügt, und es an greifbaren Anhaltspunkten für ein eheähnliches Zusammenleben und -wirtschaften mit diesem Hauseigentümer fehlt.
LSG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 7. Juli 2020 (l 2 AS 346/17):
Fahrkosten zum Besuch des in der JVA einsitzenden eheähnlichen Partners stellen einen gemäß § 21 Abs. 6 SGB II berücksichtigungsfähigen Bedarf dar. Art. 6 Abs. 1 GG schützt ebenfalls die Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen, die im besonders begründeten Einzelfall auch außerhalb von Ehe und Familie liegen können, wenn z. B. enge persönliche Kontakte als Ausdruck einer tatsächlich gelebten Beziehung von besonderer Nähe, wechselseitiger Verantwortlichkeit füreinander sowie von Rücksichtnahme- und Beistandsbereitschaft aufzufassen sind und deshalb für die individuelle personale Existenz des einzelnen eine herausgehobene Bedeutung haben.
Dies gilt gerade dann, wenn die Partnerin eines Inhaftierten von ihm der JVA gegenüber als dessen erste und einzige Bezugsperson angegeben wird, die diese Funktion auch ausübt. Hier kann vom Bestehen eines von einem starken Verantwortungsgefühl geprägten, eheähnlichen Notverhältnis ausgegangen werden, das weit über eine bloße Freundschaft hinausgeht.
Bei diesen Gegebenheiten lassen sich bis zu zwei Besuche pro Monat noch dem Bereich der Existenzsicherung zuordnen und als ein besonderer Bedarf nach § 21 Abs. 6 SGB II anerkennen.
Hinsichtlich der Höhe der Kosten, die gemäß § 21 Abs. 6 SGB II wegen des Fehlens weiterer Finanzierungsmöglichkeiten und der Unmöglichkeit der Bestreitung entsprechender Aufwendungen aus den Mitteln des Regelbedarfs (§ 20 SGB II) geltend gemacht werden können, ist vom Jobcenter grundsätzlich die Kilometerpauschale von 0,20 EUR nach § 5 Abs. 1 Bundesreisekostengesetz (BRKG) zu berücksichtigen.
Amtsgericht Zeitz, Beschluss vom 10. August 2020 (5 M 837/19):
Zum Pfändungsschutz der einer überschuldeten Arbeitnehmerin von ihrem Arbeitgeber auf ihr Pfändungsschutzkonto (§ 850 k Abs. 1 Satz 1 ZPO) überwiesenen „Corona-Sonderzahlung“ in einer Höhe von EUR 500,- gemäß § 850k ZPO in Verbindung mit § 765a Abs. 1 Satz 1 ZPO.
Dieser Betrag stellt eine von der Bundesregierung initiierte, steuer- und sozialversicherungsfreie Zuwendung in Anerkennung besonderer, während der Pandemie-Phase erbrachter Leistungen (hier: Ausübung einer Tätigkeit in einem Betrieb, der Hygieneartikel produziert) dar.
In Berücksichtigung von Sinn und Zweck dieser Zuwendung ist davon auszugehen, dass diese „Corona-Sonderzahlung“ ausschließlich und uneingeschränkt den hierdurch begünstigten Beschäftigten als eine besondere Anerkennung zugutekommen soll und deshalb unpfändbar zu sein hat.
Der dieser Sonderzahlung zugrunde liegenden Intention des Gesetzgebers würde nicht entsprochen werden, wenn dieser Betrag nach einer Pfändung der auf dieses Konto gebuchten Gutschrift den leistungsberechtigten Arbeitnehmern nicht mehr (ungeschmälert) zur Verfügung steht. Dies würde für die hiervon betroffenen Beschäftigten eine sittenwidrige Härte darstelle. Diesem Motiv stehen überwiegende Belange der Gläubiger nicht entgegen.
OVG Sachsen, Urteil vom 23. September 2020 (3 A 975/19):
Die Schulgeldfreiheit stellt in Verbindung mit der Schulpflicht eine Leistung der staatlichen Daseinsvorsorge dar, die aus übergeordneten bildungs- und sozialpolitischen Gründen eine eigenständige Regelung außerhalb des SGB gefunden hat.
Die Übernahme der für den Besuch einer Privatschule entstehenden Aufwendungen entspricht grundsätzlich nicht der Aufgabenstellung der Träger der öffentlichen Jugendhilfe.
Eins Ausnahme ist hier nur dann vertretbar, wenn auch unter Einsatz unterstützender Maßnahmen des Kinder und Jugendhilferechts (SGB VIII) keine Möglichkeit besteht, den Hilfebedarf im Rahmen des öffentlichen Schulsystems zu decken.
Dies hat dann bejaht zu werden, wenn im besonders begründeten Einzelfall einem jungen Menschen der Besuch einer öffentlichen Schule aus objektiven oder schwerwiegenden persönlichen Gründen unmöglich oder unzumutbar ist sowie keine andere Möglichkeit besteht, den Hilfebedarf innerhalb des öffentlichen Schulsystems zu decken. Der Grundsatz der Nachrangigkeit der Kinder- und Jugendhilfe (§ 10 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII) gelangt nicht zur Geltung, wenn nicht feststellbar ist, dass für einen seelisch wesentlich behinderten jungen Menschen (GdB:50) eine von seinem Wohnort erreichbare öffentliche Schule für seine Beschulung problemlos zur Verfügung steht, und der Schulbehörde keine für diese schulpflichtige Person zumutbare und geeignete Bildungseinrichtung bekannt ist.
Hier liegt ein Ausnahmefall vor, der es rechtfertigt, ungeachtet einer unterbliebenen Feststellung des Ruhens der Schulpflicht gemäß § 29 Abs. 1 SächsSchulG, einen Anspruch auf die Bewilligung von Eingliederungshilfe gemäß § 35a SGB VIII in Verbindung mit den §§ 90 Abs. 4 und 112 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB IX in Form der Übernahme der erforderlichen Kosten für die Inanspruchnahme der Leistungen der Webschule anzuerkennen. Hierfür spricht auch die Duldung der Erfüllung der Schulpflicht durch häuslichen Unterricht im Sinne des § 26 Abs. 4 SächsSchulG seitens der zuständigen Schulbehörde wegen seelischer Erkrankung des schulpflichtigen jungen Menschen.
Die notwendige fachärztliche Bestätigung für die behinderungsbedingte Inanspruchnahme von Leistungen der Webschule kann auch durch den Antragsteller beigebracht werden.
LSG Schleswig-Holstein, Urteil vom 19. Mai 2020 (L 3 AS 2/18):
Das von einem SGB II-Träger zur Konkretisierung der Angemessenheit der Kosten der Unterkunft gemäß § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II vorgelegte Konzept kann insbesondere dann nicht als in sich schlüssig akzeptiert werden, wenn in diesem Rahmen das gesamte Kreisgebiet als Vergleichsraum herangezogen wird.
Hier sind amtlicherseits Fragen nach der problemlosen Erreichbarkeit des Kreisgebiets bereits im Rahmen der Prüfung der abstrakten Angemessenheit und damit bei der Bildung des Vergleichsraums aufzugreifen. Entsprechendes ist insbesondere erforderlich, wenn empirische Nachweise dafür, dass auch Alg II-Empfänger in einem als erheblich einzuschätzenden Umfang über einen eigenen Pkw verfügen, obwohl die Ausgaben für die Haltung und Nutzung eines Kfz nicht regelbedarfsrelevant sind, fehlen.
Der Aspekt der Aufrechterhaltung des sozialen Umfelds und hier insbesondere, ob auch Alg II-Empfängern, die zum Erreichen eines Arbeitsplatzes auf öffentliche Verkehrsmittel angewiesen sind, in Berücksichtigung ebenfalls der in § 140 Abs. 4 SGB III getätigten Festsetzungen ein Aufsuchen der Arbeitsstätte zumutbar und möglich ist, hat an dieser Stelle eine besondere Bedeutung.
Wenn einem Alg II-Empfänger kein eigenes Kfz zur Verfügung steht, dann bestimmt sich die Zumutbarkeit von Pendelzeiten in Orientierung anhand der Verkehrszeiten des öffentlichen Personennahverkehrs.
In Ermangelung einer hinreichenden verkehrstechnischen Verbundenheit eines Landkreises mit öffentlichen Verkehrsmitteln kann eine Kommune diesen Kreis nicht in seiner Gesamtheit als einen Vergleichsraum zur Bestimmung der Angemessenheit von Unterkunftskosten im Sinne des § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II bezeichnen.
Bei einer überproportionalen Berücksichtigung von SGB II-Bestandsmieten und Sozialwohnungen in einem Konzept zur Konkretisierung der Angemessenheit von unterkunftsbezogenen Kosten kann nicht von einer repräsentativen Erhebung des einfachen, mittleren und gehobenen Wohnungsstandards ausgegangen werden. Dies gilt gerade auch dann, wenn in diesem Rahmen der geringe tatsächliche Bestand an wohnflächenmäßig angemessenen Mietwohnungen in gleicher Weise unberücksichtigt bleibt wie eine hohe, innerhalb eines Kreises feststellbare Eigentümerquote von über 60 v. H. Letzteres führt zur einer Verknappung des Gesamtangebots für Personen aus dem unteren Einkommenssegment und für Transferleistungsbezieher, die regelmäßig nicht zwischen einer Miet- und einer Eigentumswohnung als Wohnform wählen können, sowie zu einer deutlichen Verknappung des Angebots an preisgünstigem Mietwohnraum.
Verwaltungsgericht Stuttgart, Beschluss vom 31. August 2020 (5 K 4391/20 – nicht rechtskräftig):
Verweisung eines obdachlosen Menschen auf das Mittel der Selbsthilfe in Form einer Rückreisemöglichkeit in sein Herkunftsland und Verneinung einer unfreiwilligen Obdachlosigkeit, die allein eine Polizei-/Ordnungsbehörde zu einer obdachlosenrechtlichen Intervention verpflichtet, nachdem kein Arbeitnehmerstatus (§ 2 Abs. 2 Nr. 1, 1. Alt. FreizügG/EU) mehr besteht, und die angebotene Rückkehrbeihilfe abgelehnt wurde, ohne dass gegen eine Rückkehr in den Heimatstaat sprechende Gründe erkennbar vorliegen.
BSG, Urteil vom 24. Juni 2020 (B 4 AS 12/20.R):
Das dem SGB II-Träger auf der Grundlage des § 5 Abs. 3 Satz 1 SGB II hinsichtlich des „Ob“ einer Aufforderung zur Rentenantragstellung eingeräumte Ermessen hat seinen Ausgangspunkt in der gesetzlichen Verpflichtung eines Alg II-Empfängers zur Realisierung vorrangiger Sozialleistungen entsprechend § 3 Abs. 3, 1. Halbsatz SGB II in Verbindung mit § 12a Satz 1 SGB II.
Der Aufforderung nach § 5 Abs. 3 Satz 1 SGB II hat beim Jobcenter die tatbestandliche Prüfung vorauszugehen, dass für den Leistungsempfänger die Beantragung einer vorzeitigen Altersrente nicht unbillig im Sinne des § 1 UnbilligkeitsVO ist.
Hier können nur besondere Härten, die die Inanspruchnahme einer vorzeitigen Altersrente als unzumutbar erscheinen lassen, im Einzelfall in Betracht kommen. Beim Verlust einer mit der Pflege von Angehörigen einhergehenden rentenrechtlichen Absicherung handelt es sich um keine im Rahmen dieser Ermessensentscheidung allein zu berücksichtigende Härte im Einzelfall.
Die Anerkennung des hohen Einsatzes der Pflegeperson und die Schließung der bedingt durch die Ausübung der Pflege in der Erwerbsbiographie eintretenden Lücken in der gesetzlichen Rentenversicherung hat nicht zur Folge, dass dies zwingend auch im steuerfinanzierten Existenzsicherungssystem nach dem SGB II mit seinem strengen Nachranggrundsatz zu berücksichtigen ist.
BSG; Urteil vom 3. Juli 2020 (B 8 SO 15/19.R):
Von einem Sozialhilfeträger nach § 44 SGB I zu gewährende Zinsen sind als unselbständige Nebenleistung akzessorisch zur vom Sozialamt zu gewährenden Hauptleistung. Von maßgebender Bedeutung für die Fälligkeit von Sozialhilfeansprüchen im Sinne des § 41 SGB I in Verbindung mit § 44 Abs. 1 SGB I ist stets der Zeitpunkt, wann die im Gesetz bestimmten, materiell-rechtlichen Anspruchsvoraussetzungen vorliegen.
Lehnt ein Sozialhilfeträger die Gewährung einer Leistung zu Unrecht ab, kann antragstellerseitig zwar der geltend gemachte Sozialhilfeanspruch, solange die Bestandskraft des Ablehnungsbescheids fortwirkt, gegenüber dem Sozialamt nicht durchgesetzt werden; dieser Anspruch ist aber dennoch entstanden im Sinne des § 40 Abs. 1 SGB I in Verbindung mit § 41 SGB I.
Ein Leistungsantrag hat dann als vollständig im Sinne des § 44 Abs. 2 SGB I aufgefasst zu werden, wenn dort der anspruchsbegründende Sachverhalt in der Weise dargestellt wird, so dass vom Sozialleistungsträger die gesetzlich bestimmten Voraussetzungen für einen Sozialleistungsanspruch eingehend überprüft und sein Entstehen festgestellt werden kann.
Der Zeitpunkt der Zahlung im Sinne des § 44 Abs. 1 SGB I stellt der Tag der Gutschrift der bewilligten Geldleistung auf dem Konto der anspruchsberechtigten Person dar.
BSG, Urteil vom 3. Juli 2020 (B 8 SO 27/18.R):
Das von einer teilstationär betriebenen „Integrierten Angebotswerkstatt (IAW)“ einem psychisch behinderten Erwerbsgeminderten, der Leistungen nach den §§ 41 ff. SGB XII bezieht, zur Förderung seiner Anwesenheit aus Eigen- und Spendenmitteln gewährte „Motivationsgeld“ (EUR 1,60 pro Stunde) stellt ein Einkommen im Sinne des § 82 Abs. 1 Satz 1 SGB XII dar.
Für die Frage, ob ein Einkommen vorliegt, spielt es (zunächst) keine Rolle, welcher Art die Einkünfte sind, aus welcher Quelle sie stammen, aus welchem Grunde und in welchem zeitlichen Rhythmus sie geleistet wurden. Von maßgebender Bedeutung ist hier stets der tatsächliche Zufluss an Geldmitteln.
Bei den von der IAW ihrer Klientel gegenüber auf der Grundlage der nach den §§ 75 ff. SGB XII abgeschlossenen Vereinbarungen gewährten Eingliederungsleistungen handelt es sich um keinen Ausdruck der Tätigkeit der „freien Wohlfahrtspflege“ im Sinne des § 84 Abs. 1 SGB XII. Das dieser Klientel ausgezahlte „Motivationsgeld“ stellt eine freiwillige Zuwendung Dritter im Sinne des § 84 Abs. 2 SGB XII dar, die nicht von den Regelungen der Leistungs- und Prüfungsvereinbarung (§ 76 SGB XII) mit umfasst ist, sondern in einem untrennbaren Zusammenhang mit der Eingliederungsleistung dieser teilstationären Einrichtung steht.
Die IAW unterliegt weder einer rechtlichen noch einer sittlichen Pflicht zur Zahlung dieses Motivationsgeldes im Verhältnis zu den einzelnen behinderten Maßnahmenteilnehmern.
Das Vorliegen einer besonderen Härte im Sinne des § 84 Abs. 2 SGB XII hängt maßgeblich davon ab, ob die Nichtanrechnung einer freiwilligen Zuwendung neben dem Sozialhilfebezug ungerechtfertigt ist.
Dies kann nicht vertreten werden, wenn über die Gewährung dieses Motivationsgeldes der Maßnahmenträger einen Anreiz setzt, damit bei seiner Klientel durch eine regelmäßige Teilnahme die bei diesen Personen bestehenden behinderungsbedingten Einschränkungen in Bezug auf die Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft gemindert oder überwunden werden.
Die Höhe des Motivationsgeldes von EUR 1,60 pro Stunde dokumentiert, dass hier kein Zusammenhang mit einem bei der im Rahmen der Eingliederungsmaßnahme verrichteten Tätigkeit erzielten Erfolg besteht.
Bei der Anwendung des § 84 Abs. 2 SGB XII verbietet sich eine pauschalierend getätigte Orientierung anhand von Einkommensgrenzen. Mit dem Begriff der „besonderen Härte“ im Einzelfall lässt sich eine feste Obergrenze, bis zu der eine freiwillige Zuwendung als berücksichtigungsfrei einzuschätzen wäre, nicht vereinbaren.
LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 31. August 2020 (L 2 AS 1111/20.B.ER):
Eine unter Bezug auf § 5 Abs. 3 Satz 1 SGB II vom Jobcenter geäußerte Aufforderung zur Inanspruchnahme einer vorzeitigen Altersrente stellt eine Entscheidung dar, der keine pflichtgemäße Ausübung von Ermessen zugrunde liegt, wenn nicht vor dem Erlass eines entsprechenden Verwaltungsakts eine umfassende Aufklärung des Sachverhalts im für eine rechtmäßige Ermessenausübung notwendigen Umfang erfolgte, z. B. wenn die wichtige Klärung der von einer 63jährigen Alg II-Empfängerin konkret zu erwartenden Rentenhöhe vor dem Erlass der von ihr angefochtenen Aufforderung zur Rentenantragstellung unterblieb. Hier bedarf es zunächst der Beibringung einer möglichst aktuellen und damit exakten Rentenauskunft.
LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 8. November 2019 (L 21 AS 497/19):
Die Kostengrundentscheidung in einem vom Jobcenter erlassenen Widerspruchsbescheid als selbständige Regelung hat sich mit Erlass des endgültigen, in einer Alg II-Angelegenheit bekannt gegebenen Bescheids nicht erledigt im Sinne des § 39 Abs. 2 SGB X.
Ein auf § 63 Abs. 1 Satz 1 SGB X gestützter Kostenerstattungsanspruch kann nur dann geltend gemacht werden, wenn diesem Rechtsbehelf vom Jobcenter abgeholfen oder stattgegeben wurde.
Ein Widerspruch blieb erfolglos, soweit er förmlich zurückgewiesen wurde, oder soweit der Widerspruchsführer mit seinem sachlichen Begehren nicht durchgedrungen ist.
Dies hat auch dann bejaht zu werden, wenn das Jobcenter einen Widerspruch als unzulässig verworfen, die Widerspruchsführerin ihrerseits die innerhalb des Widerspruchsbescheids bekannt gegebene Sachentscheidung bindend, d. h. formell bestandskräftig hat werden lassen, und diese Person nur die Kostenentscheidung isoliert angefochten hat.
Hier ist rein formal auf das Ergebnis des Widerspruchsverfahrens abzustellen. Aus welchen Gründen ein Widerspruch erfolglos war, hat hier keine Bedeutung. Die Rechtmäßigkeit des angefochtenen Bescheids soll nicht nach Abschluss des Widerspruchsverfahrens im anschließenden Kostenverfahren überprüft werden müssen.
Ein gegen einen gemäß § 41a Abs. 1 SGB II vorläufig erlassenen Bescheid erhobener Widerspruch wird nach Ablauf des dort festgesetzten Bewilligungszeitraums nicht stets unzulässig.
BSG, Urteil vom 14. Mai 2020 (B 14 AS 7/19.R):
Ein mit Verweis auf Art. 17 Abs. 1a DSGVO erhobener Löschungsanspruch zur Entfernung von Kontoauszügen mit Nachweisen zu Gutschriften aus der Leistungsakte eines ehemaligen Alg II-Empfängers kann sich nach seinem sachlichen Anwendungsbereich auch auf Kopien von Kontoauszügen in Akten von Sozialleistungsträgern (§ 12 SGB I), die in Papierform geführt werden, erstrecken.
Hier liegt eine Speicherung personenbezogener Daten im Sinne des Art. 4 Nr. 1 DSGVO in einem „Dateisystem“ gemäß Art. 2 Abs. 1 DSGVO, nämlich eine Sammlung personenbezogener Daten als eine planmäßige Zusammenstellung von Einzelangaben, vor.
Die Verarbeitung von Kontoauszügen mit Informationen zu eingegangenen Gutschriften beruht aber auf einer ausreichenden Befugnis im Sinne des Art. 6 Abs. 1c) DSGVO, soweit das Jobcenter unter Bezug auf bei ihm eingereichte Leistungsanträge Kontoauszüge angefordert und hierdurch Angaben über Kontobewegungen erhoben hat. Die Rechtsgrundlage für diese Erhebungsbefugnis geht aus § 35 Abs. 2 SGB I in Verbindung mit § 67a SGB X hervor.
Kontoauszüge mit Angaben zu Gutschriften darf ein Jobcenter für die Dauer von zehn Jahren nach der Bekanntgabe der Leistungsbewilligung in Kopie zur Leistungsakte nehmen, sofern der SGB II-Träger Leistungsbezieherinnen und -beziehern die Möglichkeit der Schwärzung nicht leistungserheblicher Informationen über die Zahlungsempfänger von Lastschriften eingeräumt hat (§ 67c Abs. 1 Satz 1 SGB X).
Ein Jobcenter kann die ihm bei der Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts (§§ 19 ff. SGB II) zugewiesenen Aufgaben nicht erfüllen ohne Kenntnis von den Einnahmen der antragstellenden und in Bedarfsgemeinschaft mit ihnen zusammenlebender Personen im jeweiligen Bedarfszeitraum. Die Erhebung und Verarbeitung entsprechender Sozialdaten ist soweit erforderlich im Sinne des § 67c Abs. 1 Satz 1 SGB X.
Eine Beibehaltung der vom Jobcenter in die Leistungsakte aufgenommenen Kontoauszüge ist auch dadurch gerechtfertigt, wenn amtlicherseits nachträglich antragstellerseitig zunächst nicht offengelegte Einnahmen (§ 11 Abs. 1 Satz 1 SGB II) bekannt werden, und deshalb entsprechend § 40 Abs. 1 Satz 1 SGB II in Verbindung mit § 45 SGB X ein Rücknahmeverfahren eingeleitet zu werden hat. Dies ist in den Fällen nach § 45 Abs. 3 Satz 3 Nr. 1 SGB X bis zum Ablauf von zehn Jahren nach der Bekanntgabe des rechtswidrigen, begünstigenden Verwaltungsakts möglich.
Das Jobcenter hat hier der Beweislast für das Erfordernis der Änderung einer ursprünglichen Bewilligung wegen einer anfänglich rechtswidrigen Begünstigung zu entsprechen.
Hier liegt weder eine unzulässige Verarbeitung auf Vorrat, d. h. kein unbestimmter oder noch nicht bestimmbarer, noch ein unverhältnismäßiger Eingriff in das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung (Art. 1 und 2 GG) vor.
Soweit gespeicherte Daten vom Jobcenter zunächst zur Umsetzung von Änderungen im laufenden Bewilligungszeitraum und später bei der Überprüfung von Bewilligungsbescheiden im Rahmen von Vorverfahren gemäß § 83 SGG oder im Zugunstenverfahren nach § 44 SGB X benötigt werden, dann ist dies durch das öffentliche Interesse an der Verhinderung von zusätzlichem Erhaltungsaufwand sowie einer sparsamen Mittelverwendung hinreichend gerechtfertigt.
BSG, Urteil vom 3. Juli 2020 (B 8 SO 2/19.R):
Soweit ein Sozialhilfeträger bei einem gesetzlichen Betreuer (§§ 1896 ff. BGB) Kostenersatz wegen Aufwendungen zur Deckung der pflegerischen Bedarfe (§§ 61 ff. SGB XII) der betreuten Person und für ihren (in der Hilfe zur Pflege inkludierten) Lebensunterhalt (§ 27b SGB XII) geltend macht, ist der Anwendungsbereich des § 103 Abs. 1 SGB XII („Kostenersatz bei schuldhaftem Verhalten“) grundsätzlich auch gegenüber diesem gesetzlichen Betreuer eröffnet.
Ein Bescheid über die Inanspruchnahme auf Kostenersatz nach § 103 Abs. 1 SGB XII ist nur dann hinreichend bestimmt im Sinne des § 33 Abs. 1 SGB X, wenn der Adressat dieses Verwaltungsakts problemlos erkennen kann, für welche Sozialhilfeleistungen die Behörde im Einzelnen Kostenersatz von ihm verlang.
Bei einer wegen „nicht vereinnahmte Leistungen“ vom Sozialamt dem Grunde nach begehrten Kostenerstattung steht für die als rückzahlungspflichtig bezeichnete Person nicht fest, welche (Sozialhilfe-) Leistungen hiervon genau erfasst sein sollen bzw. inwiefern sich infolge dieser „nicht vereinnahmten Leistungen“ eine Sozialhilfebedürftigkeit gemäß § 19 Abs. 1 bis 3 SGB XII ergeben hat, und deshalb vom Sozialhilfeträger entsprechende Hilfen bewilligt worden sind.
Ein gesetzlicher Betreuer gehört bereits nach dem Wortlaut des § 103 Abs. 1 Satz 1 SGB XII („für sich oder andere“), aber auch nach dem Sinn und Zweck dieser Norm zum Adressatenkreis dieser Bestimmung.
Hiernach kann ein Sozialhilfeträger Kostenersatz nicht nur im Fall der Herbeiführung der Sozialhilfebedürftigkeit für sich und die eigenen Angehörigen, sondern auch in Fällen sonstiger dritter Personen fordern, ohne dass diesen Menschen eine besondere „Garantenstellung“ gegenüber den Vermögensinteressen des Sozialamts zukommt.
Ein Kostenersatz nach § 103 Abs. 1 SGB XII scheidet aber aus, wenn das Verhalten (bzw. Unterlassen) des gesetzlichen Betreuers nicht kausal für die Hilfebedürftigkeit der gesetzlich betreuten Person war. Dies gilt gerade dann, wenn ein Beratungsfehler des Sozialhilfeträgers vorliegt, auf den wesentlich der Eintritt der Leistungsberechtigung zurückgeführt werden kann. Entsprechend § 14 Satz 1 SGB I in Verbindung mit § 11 Abs. 2 Satz 3 SGB XII sind anspruchsberechtigte Personen vom Sozialhilfeträger ebenfalls „für den Erhalt von Sozialleistungen zu befähigen“, Dieser Aspekt drängt sich in einem Fall eines amtlicherseits bekannt gewordenen Verlusts des Kranken- und Pflegeversicherungsschutzes eines vollstationär gepflegten Menschen geradezu auf.
BSG, Urteil vom 3. Juli 2020 (B 8 SO 5/19.R):
Ein Widerspruch ist erfolgreich im Sinne des § 63 Abs. 1 Satz 1 SGB X, soweit diesem Rechtsbehelf seitens des zuständigen Sozialleistungsträgers förmlich abgeholfen oder stattgegeben wurde bzw. der Widerspruchsführer sich mit seinem sachlichen Begehren durchsetzen konnte. Es hat eine ursächliche Verknüpfung zwischen der Einlegung dieses Rechtsbehelfs und einer begünstigenden Widerspruchsentscheidung zu bestehen.
Hieran fehlt es, wenn ein erhobener Widerspruch in der Hauptsache keinen Erfolg hatte, weil dieser Rechtsbehelf vollständig als unzulässig zurückgewiesen wurde, und der Widerspruchsführer lediglich mit seinem hilfsweise gestellten Verzinsungsantrag (§ 44 SGB I) erfolgreich war, der aber keinen Gegenstand des Widerspruchsverfahrens darstellte.
Ob mit der Bewilligung einer Geldleistung, die zu einem Zinsanspruch nach § 44 SGB I schweigt, eine konkludente Ablehnung einer Verzinsung verbunden ist, hängt von den Umständen des Einzelfalls ab.
Ein bloßes behördliches Schweigen im Rahmen einer Entscheidung über die Bewilligung höherer Leistungen nach den §§ 41 ff. SGB XII enthält keine ausdrückliche Aussage – weder positiv noch negativ – zu einer Verzinsung des vom Sozialamt bewilligten Nachzahlungsbetrags.
Bloßes Schweigen enthält grundsätzlich weder eine zustimmende noch eine ablehnende, sondern keinerlei Willensbetätigung.
Anderes gilt nur, wenn besondere Umstände des Einzelfalls vorliegen.
Dies liegt aber nicht bereits deshalb vor, weil der Zinsanspruch vom Hauptanspruch abhängig ist, und die Sozialverwaltung über einen etwaigen Zinsanspruch des Leistungsempfängers auch ohne einen gesonderten Antrag von Amts wegen zu entscheiden hat. Haupt- und Zinsanspruch sind stets in zwei selbständigen (materiellen) Verwaltungsakten zu verlautbaren, die zeitgleich im selben Bescheid, aber auch zeitversetzt in verschiedenen Bescheiden erlassen werden können.
Quelle: Kommentar Dr. Manfred Hammel