Kommentierte Gerichtsentscheidungen – Teil 16

22. September 2019

BSG, Urteil vom 4. April 2019 (B 8 SO 11/17.R). Für Leistungen zur Eingliederungshilfe körperlich oder geistig behinderter Kinder und Jugendlicher folgt aus § 10 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII eine gegenüber Leistungen nach dem SGB VIII vorrangige Obliegenheit des zuständigen Sozialhilfeträgers unabhängig davon, welche Behinderung im Sinne des § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX und § 1 DVO nach § 60 SGB XII im Vordergrund steht und ob für die konkrete Maßnahme eine Behinderung oder ein Erziehungsdefizit in der Herkunftsfamilie ursächlich war.

Dies gilt gerade dann, wenn die Unterbringung des schwerbehinderten Antragsteller (GdB: 100; Merkzeichen „G“, „B“, „H“ und „RF“) in einer speziell auf hörgeschädigte Kinder und Jugendliche ausgerichteten Wohngruppe angesichts des durch die hochgradige Schwerhörigkeit verursachten Entwicklungsrückstands mit Sprachentwicklungsstörung die geeignete Teilhabemaßnahme nach den §§ 53 ff. SGB XII in Verbindung mit § 55 Abs. 2 Nr. 6 SGB IX a. F. / § 77 SGB IX n. F. darstellt, die erwarten lässt, dass die Behinderungsfolgen gemildert und dem Antragsteller hierdurch die Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft („Soziale Teilhabe“) ermöglicht werden würde.

Das Erfordernis, in bestimmten Zeitabschnitten die Geeignetheit und Erforderlichkeit einer solchen Leistung zu überprüfen, und die hierauf beruhende Praxis der Sozialhilfeträger, dem Leistungserbringer gegenüber Kostenzusagen nur abschnittsweise auszufertigen sowie Leistungen monatsweise abzurechnen, führt nach dem Recht der Eingliederungshilfe nicht dazu, dass im Anschluss an einen solchen Zeitabschnitt (jeweils) ein Anspruch auf eine neue Teilhabeleistung entsteht. Es handelt sich hier nicht um eine wiederkehrende Leistung, denn erst wenn das Teilhabeziel erreicht ist, gilt die Sachleistung als vollständig erbracht, und endet der Leistungsfall, wenn ein maßgeblich veränderter Rehabilitationsbedarf besteht.

LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 4. Juni 2019 (L 9 KR 363/17):

Im Zusammenhang mit der Erstattung der Kosten für die Beschaffung und den Einbau eines Autoschwenksitzes für eine schwerbehinderte, insbesondere mit einem komplexen Fehlbildungssyndrom mit Kleinwuchs betroffene Person (GdB: 100; Merkzeichen „G“, „aG“, „H“ und „B“ sowie Pflegegrad 5) gelangt § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V als Anspruchsgrundlage nicht zur Anwendung.

Es liegt hier kein unmittelbarer, sondern lediglich ein mittelbarer Behinderungsausgleich im Bereich der Mobilität eines behinderten Menschen vor. Durch diesen besonderen Sitz wird nicht – wie z. B. bei einem Rollstuhl – die Mobilität selbst ermöglicht, sondern lediglich die Folgen der Funktionsbeeinträchtigung der Beine in Form der Unfähigkeit, selbst und aus eigener Kraft einen Pkw zu besteigen und wieder zu verlassen, ausgeglichen.

Hier besteht ein Bedarf, der im Rahmen der Eingliederungshilfe für behinderte Menschen (§§ 53 ff. SGB XII in Verbindung mit § 9 Abs. 2 Nr. 11 DVO nach § 60 SGB XII) zu decken ist.
Der rollstuhlgerechte Umbau eines Pkws kann grundsätzlich ein Hilfsmittel in Sinne des § 9 Abs. 1 DVO nach § 60 SGB XII sein.

Eine Angewiesenheit auf die Anschaffung eines Autoschwenksitzes im Sinne des § 9 Abs. 2 Nr. 11 DVO nach § 60 SGB XII für eine schwerbehinderte Person ist dann zu bejahen, wenn das in entsprechender Weise zugerüstete Kfz nicht nur für Fahrten zu Ärzten und Therapeuten, sondern ebenfalls für Fahrten, die die soziale Eingliederung dieses Menschen in die Gemeinschaft und hier gerade in den familiären Verband gewährleisten, genutzt wird.

Sozialgericht Cottbus, Urteil vom 13. Juni 2019 (S 38 AS 545/18):

Zur Bejahung der Zumutbarkeit einer Maßnahme zur Eingliederung in Arbeit gemäß § 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB II muss für eine Arbeitslosengeld II erhaltende Person aus der Maßnahmenzuweisung des Jobcenters klar erkennbar und nachvollziehbar sein, was amtlicherseits im Einzelnen gefordert wird, d. h. die Maßnahme näher beschrieben werden, damit sich die Zumutbarkeit genau bewerten lässt.

Die Beschreibung des Ziels der Eingliederungsmaßnahme reicht hier nicht aus. Der SGB II-Träger hat vielmehr stets darzulegen, wie diese Maßnahme konkret ausgestaltet ist.

Sozialgericht Berlin, Gerichtsbescheid vom 28. August 2019 (S 114 AS 1147/17):

Zur Bejahung der Finanzierung einer notwendigen Arbeitsbrille durch das Jobcenter gemäß § 16 SGB II in Verbindung mit § 44 SGB III aus dem Vermittlungsbudget, wenn nur über eine entsprechende Sehhilfenversorgung eine ausreichende Einsatzfähigkeit eines Alg II-Empfängers auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt erreicht werden kann.

LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 16. Juli 2019 (L 11 AS 190/19.B.ER):

Eine Ermächtigung zur Erteilung eines Hausverbots in einem Jobcenter stellt einen Ausfluss des vom Geschäftsführer (§ 44d Abs. 1 Satz 1 SGB II) auszuübenden Hausrechts, das als notwendiger Annex zur öffentlich-rechtlichen Sachkompetenz besteht, dar.

Ein Antragsteller stört den Dienstbetrieb eines Jobcenters nachhaltig, indem diese um Arbeitslosengeld II nachsuchende Person z. B. das Telefon des Sachbearbeiters herausreißt und hiermit um sich wirft, weshalb dieser Antragsteller auch wegen Sachbeschädigung (§ 303 StGB) zu einer Geldstrafe verurteilt wurde.

Das Herausreißen und Wegwerfen eines Diensttelefons verkörpert nicht mehr nur eine deutliche Grenzüberschreitung, sondern eine strafbare Handlung, die bereits ihrem Wesensgehalt nach ein aggressives und bedrohliches Verhalten beinhaltet. Hiermit wird mehr als nur deutlich die Grenze zu einem lediglich „schwierigen Besucher“ überschritten.

Auch die Ermessensentscheidung über die Verhängung eines Hausverbots und die Dauer (ca. 14 Monate) begegnet keinen durchgreifenden Bedenken, denn es bleibt dem Antragsteller während dieser Zeit unbenommen, mit dem Jobcenter per Post, Telefon, E-Mail oder über seinen Rechtsanwalt Kontakt aufzunehmen.

BSG, Urteil vom 27. Februar 2019 (B 7 AY 1/17.R):

Die Bestimmung von Inhalt und Umfang des zur Existenzsicherung „unabweisbar Gebotenen“ im Sinne des § 1a Abs. 1 AsylbLG hat von der zuständigen Behörde anhand der konkreten Umstände des Einzelfalls einzig bedarfsorientiert zu erfolgen. Die existenznotwendigen Bedarfe bestehen unabhängig von der Art und der Dauer eines fortgesetzt praktizierten, rechtsmissbräuchlichen Verhaltens.

In Bezug auf die Höhe der nach § 1a Abs. 1 AsylbLG bewilligten Leistungen sind einzig Änderungen in der Bedarfslage von maßgebender Bedeutung. Eine Veränderung des „unabweisbar Gebotenen“ im Sinne des § 1a Abs. 1 AsylbLG kann auch dann nicht bejaht werden, wenn Antragsteller ihre Abschiebung aus dem Bundesgebiet fortgesetzt über Jahre hinweg verhindert haben.

Wenn die zuständige Ausländerbehörde unter Bezug auf einen erneut gestellten Folgeschutzantrag die faktische Aussetzung von Abschiebungsmaßnahmen verfügt, dann führt dies zu einem Entfallen der Kausalität des Verhaltens des Antragstellers für die Nichtdurchführung aufenthaltsbeendender Maßnahmen entsprechend § 1a Abs. 5 AsylbLG, und zwar unabhängig vom Ausgang des anschließenden verwaltungsgerichtlichen Verfahrens.

Gibt die Ausländerbehörde ihrerseits im Einzelfall zu erkennen, dass sie trotz vollziehbarer Ausreisepflicht in Erwartung einer (erneuten) gerichtlichen Klärung von Abschliebungshindernissen von derartigen Maßnahmen (einstweilen) absieht, dann fehlt es hier an der notwendigen Kausalität für eine Anspruchseinschränkung gemäß § 1a AsylbLG.

Quelle: Kommentar Dr. Manfred Hammel


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