Einblick in die Kinderganztagsbetreuung in Deutschland als ein System am Limit, das die Nachfrage der gesetzlich Anspruchsberechtigten schon jetzt nicht mehr bedienen kann, gaben die Expertinnen und Experten im Fachgespräch des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend zum Thema „Fachkräftemangel in den Kitas und Probleme beim Ausbau der Ganztagsbetreuung“ am Mittwochmittag.
Seit 37 Jahren sei sie nun als Erzieherin tätig, aber „so schlimm war es noch nie“, beschrieb Martina Meyer von der Bundesfachgruppe Erziehung, Bildung und Soziale Arbeit der Vereinigten Dienstleistungsgewerkschaft ver.di die derzeitige Situation an den Kindertageseinrichtungen in Deutschland.
Die Personalentwicklung halte mit dem Ausbau des Systems – Rechtsansprüche, Qualitätsstandards, Neueröffnungen – nicht mehr Schritt. Auf fast 25.000 offene Stellen belaufe sich nach jüngsten Erhebungen der bundesweite Fachkräftemangel in dem Bereich. Und die Fachkräftelücke werde weiter wachsen. Mit dramatischen Folgen: Gruppen würden aufgestockt, Öffnungszeiten verkürzt, Bildungs- und Freizeitangebote entfielen. Und: Gebaute Einrichtungen könnten aufgrund des Fachkräftemangels nicht eröffnen, sagte Meyer. Ungeachtet dessen werde weiter gebaut.
Gleiches gelte für den Auf- und Ausbau der ganztägigen Bildung, Erziehung und Betreuung von Schulkindern, für die ab dem Schuljahr 2026/27 ein Rechtsanspruch für die Erstklässler bestehen soll. Durch die Personallücken einerseits, die noch durch Weggänge und eklatant hohe Krankenstände verschärft würden, sei es den Kitas unmöglich, ihren Betrieb den fachlichen Anforderungen der Bildungspläne und Ansprüchen der Eltern auf Vereinbarkeit von Familie und Beruf entsprechend aufrecht zu erhalten.
Die Belastung der in den Einrichtungen verbleibenden Fachkräfte sei immens und steige weiter an, berichtete Meyer. Dieselbe Arbeit, ein Job mit hoher Verantwortung, höhere Standards und zu viel Verwaltungstätigkeit verteilten sich auf immer weniger Schultern. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bekämen zudem täglich Frust und Wut der Eltern zu spüren. „Wir sind davon überzeugt, dass in den nächsten Jahren das derzeitige System die eigentlich notwendigen Kapazitäten nicht gewährleisten kann“, so die Verdi-Vertreterin.
Bund, Länder und Kommunen müssten einen Stufenplan erarbeiten, der die Stabilisierung des Systems sowie dessen qualitativen und quantitativen Ausbau sichere. Es brauche bundesweit einheitliche Standards für Personal, Ausbildung und Finanzierung. „Mindestens zehn Jahre“ werde es dauern, „um dieses System wieder stabil zu machen“, sagte die ehrenamtliche Gewerkschafterin, Erzieherin und Personalrätin.
„Das tue ich mir nicht mehr an“, sagten sich viele Erzieherinnen angesichts des Personalnotstands, der gestiegenen Arbeitsbelastung und der ihnen täglich entgegenschlagenden Unzufriedenheit der Eltern, und wechselten in einen anderen Job, berichtete Waltraud Weegmann vom Deutschen Kitaverband, Bundesverband freier unabhängiger Träger von Kindertagesstätten e. V..
Kita-Erzieherin/Kita-Erzieher gehöre zu den Jobs mit der höchsten Burnout-Quote. Die Erzieherinnen und Erzieher liebten ihre Arbeit, stellten höchste Ansprüche an sich selbst und seien dabei mit den Anforderungen und Defiziten eines expandierenden Systems sowie den gestiegenen Ansprüchen der Eltern konfrontiert. „Wir verlieren immer mehr Menschen aus dem System“, das doch eigentlich im Aufbau sei, so Weegmann.
In dem Berufsfeld herrsche Vollbeschäftigung. Zehn Prozent der Stellen in den Kitas seien unbesetzt. Der Personalnot begegneten viele mit ganztägigen Schließungen. Fast 60 Prozent der Bildungsaktivitäten für die Kinder hätten im Schnitt eingestellt werden müssen. „Und die Situation verschärft sich täglich“, sagte Weegmann. Die genannten Zahlen datierten aus dem Jahr 2022. Heute sehe es vermutlich noch drastischer aus. Die Vergütung in der Branche – „Dreieinhalbtausend als Einstiegsgehalt“ – bezeichnete Weegmann als attraktiv. Und insgesamt: „Wir müssen den Beruf gut reden, nicht schlecht.“
Weegmann warb für ein „gemeinsames Verständnis“ der aktuellen problematischen Situation, die man gemeinsam lösen müsse. Es gehe darum, die Ausbildungskapazitäten zu erhöhen, das System durchlässiger für Quereinsteiger zu machen und ausländische Fachkräfte schneller einzubinden. Sie wisse von britischen und spanischen Erziehern, die hierzulande arbeiten wollten, jedoch eineinhalb Jahre auf ihre Anerkennung hätten warten müssen.
Man brauche Personal aus allen Bereichen, von der pädagogischen Fachkraft bis hin zu Akademikern. Mit Vereinen aus den unterschiedlichsten Bereichen seien zudem Kooperationen einzugehen, um den Kindern attraktive Angebote machen, und dazu Fragen der rechtlichen Verantwortlichkeiten bei gemeinsamen Aktivitäten zu klären. Kita-Leitungen und Fachkräfte seien zudem dringend von Verwaltungstätigkeiten zu entlasten.
„Der Personalbedarf wird erheblich weiter steigen“, sagte auch Marc Elxnat, kommissarischer Leiter des Dezernats für Recht, Soziales, Bildung, Kultur und Sport des Deutschen Städte- und Gemeindebundes. Für die Kommunen als Träger zahlreicher Kitas werde es „immer schwieriger, familienfreundliche Öffnungszeiten anzubieten“.
830.000 Beschäftigte seien momentan deutschlandweit in den Kitas angestellt, es handele sich um einen sehr großen und dynamischen Bereich des Arbeitsmarktes. Von 2006 bis 2020 habe sich das pädagogische Personal verdoppelt. Je nach Bundesland habe man hohe Standards und Personalschlüssel, wie viele Kinder von wie vielen Fachkräften betreut und unterrichtet werden dürften. Zusätzlich zu mehr Personal benötige man aber auch noch mehr Einrichtungen.
Um die Probleme zu lösen, hätten sich Arbeitgeber, Gewerkschaften und Kommunen zusammengetan. Bund, Länder und Kommunen müssten nun ebenfalls gemeinsam handeln. Die Ausbildungskapazitäten müssten vergrößert werden, Auszubildende bereits eine Vergütung erhalten. Quereinsteigern und ausländischen Fachkräften sei der Einstieg zu erleichtern.
So wie es momentan laufe, könne man die sich aus den gestiegenen Rechtsansprüchen sich ergebenden Verpflichtungen nicht erfüllen, lautete das Fazit Elxnats. Einen Rechtsanspruch, den man nicht einhalten könne, schreibe man eigentlich besser nicht in ein Gesetz.
Quelle: HIB – Deutscher Bundestag