Das Sozialgericht (SG) Hannover hat entschieden, dass die Berufsgenossenschaft (BG) die Kosten eines Klägers für seine Sexualassistenz im Rahmen eines persönlichen Budgets zu übernehmen hat.
Zugrunde lag dem Verfahren ein Wegeunfall eines im Jahre 1983 geborenen Klägers. Dieser erlitt am 27. Dezember 2003 auf dem Heimweg von seiner Berufsausbildungsstätte mit seinem PKW einen schweren Verkehrsunfall, bei dem sein Fahrzeug in die Fahrerseite getroffen und gegen ein weiteres Fahrzeug geschleudert wurde. Dabei zog sich der Kläger u.a. eine Subarachnoidalblutung und ein schweres Schädel-Hirn-Trauma mit nachfolgender Ataxie und Sprachstörungen zu. Nach stationärer Erstversorgung erfolgte eine Frührehabilitation mit noch vegetativer Dysregulation, apallischem Syndrom (Wachkoma) und ausgeprägter spastischer Tetraparese (Lähmung aller Extremitäten).
Weitere stationäre Behandlung mit noch schwerem hirnorganischem Psychosyndrom schloss sich an. Am 15. April 2005 wurde der Kläger nach Hause entlassen mit weiterhin bestehenden hochgradigen Funktionsbeeinträchtigungen und der Hilfebedürftigkeit in allen Alltagsverrichtungen wie An- und Ausziehen, Körperpflege und Nahrungsaufnahme. Der Unfall wurde als Arbeitsunfall anerkannt. Seit dem 16. September 2006 bezieht der Kläger wegen der Folgen des Arbeitsunfalls eine Verletztenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 100 vH.. Das zuständige Versorgungsamt hat ferner einen Grad der Behinderung von 100 und die Merkzeichen „aG“, „G“, „H“ und „B“ festgestellt.
Auf Antrag des Klägers schloss die BG mit dem Kläger einen entsprechenden Budgetvertrag und bewilligte ihm als Leistung zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft ein persönliches Budget für Sexualbegleitung durch zertifizierte Dienstleisterinnen für den Zeitraum März 2016 bis insgesamt Februar 2018.
Den Folgeantrag des Klägers auf Gewährung eines weiteren persönlichen Budgets ab März 2018 lehnte die BG ab. Leistungen zur Befriedigung des Sexualtriebs fielen nicht unter den Bereich der Heilbehandlung oder Pflege, weil es sich nicht um die Behandlung einer Krankheit bzw. nicht um Hilfe bei gewöhnlich regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens eines Menschen handele. Es handele sich auch nicht um Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft, weil die Befriedigung sexueller Bedürfnisse durch den Einsatz Prostituierter nicht die Teilnahme am Leben in der Gesellschaft ermögliche oder erleichtere.
Das SG Hannover hat am 11. Juli 2022 der Klage stattgegeben. Die Leistungen zur sozialen Teilhabe nach § 39 SGB VII beschränkten sich nicht darauf, Kontakte zur Außenwelt zu knüpfen oder Hilfsmittel zur Bewältigung der Anforderungen des täglichen Lebens bereitzustellen, sondern sie sollten auch das gestörte seelische Befinden des Behinderten verbessern und sein Selbstbewusstsein stärken. Sexuelle Bedürfnisse zählten zu den grundlegenden menschlichen Bedürfnissen und könnten daher im Rahmen von Teilhabeprozessen auch indirekt eine große Rolle spielen, nämlich für die persönliche Entwicklung und das seelische Befinden. Damit sei eine selbstbestimmte Sexualität Voraussetzung für eine wirksame und gleichberechtigte Teilhabe und soziale Eingliederung des Menschen mit Behinderung.
Quelle: Sozialgericht Hannover, Urteil vom 11. Juli 2022, – S 58 U 134/18 – nicht rechtskräftig