Darmstadt/Berlin (DAV). Behinderte Menschen haben Anspruch auf Leistungen der Eingliederungshilfe. Dazu gehört auch die Förderung der Verständigung, wenn die Sprachfähigkeit eingeschränkt ist. Ein vierjähriges Kind hat Anspruch auf einen Hausgebärdensprachkurs, bei welchem die Gebärdensprache im häuslichen Umfeld unterrichtet wird. Es muss sich nicht auf einen logopädischen Kurs zur Unterstützten Kommunikation verweisen lassen.
Dies entschied das Hessische Landessozialgericht am 9. Dezember 2021 (AZ: L 4 SO 218/21 B ER). Die Gebärdensprache erleichtert die Teilhabe am Leben, erläutert die Arbeitsgemeinschaft Sozialrecht des Deutschen Anwaltvereins (DAV).
Das 4-jährige Mädchen leidet an einer Sprachentwicklungsstörung, ohne sprachrelevante Hörstörung. Es kann nicht intuitiv die Zunge nach links, rechts oder oben bewegen. Daher kann es nur wenige Wörter verständlich aussprechen. Die Eltern des Mädchens beantragten für ihre Tochter einen Hausgebärdensprachkurs im Umfang von 6 Stunden wöchentlich. Das Sprechvermögen befinde sich auf dem Stand eines 2,5-jährigen Kindes, während das Wortverständnis einem 5-jährigen Kind entspreche. Das Mädchen fühle sie sich nicht verstanden und reagiere häufig sehr aggressiv gegenüber vertrauten Personen. Hinzu komme, dass sie bald eine Förderschule mit dem Schwerpunkt Sprache und Gehör besuche. Dort werde teilweise in Gebärden unterrichtet. Schließlich habe das Jugendamt den Eltern den Platz unter der Voraussetzung bewilligt, dass dem Kind ein entsprechender Kurs gewährt werde.
Die Stadt Kassel lehnte den Antrag ab. Sie hielt ein Förderkonzept aus einer intensiven logopädischen Behandlung mit Unterstützender Kommunikation, einer Kindergartenintegrationsmaßnahme sowie einer interdisziplinären Frühförderung für erfolgsversprechender. Mehr noch: Die Kommune hielt das Erlernen der Gebärdensprache sogar für kontraproduktiv und meinte, sie überfordere das Kind. Da im Kindergarten die Lautsprache mit Unterstützter Kommunikation geübt werde, könne die Gebärdensprache zudem dort nicht genutzt werden.
Diese Meinung der Stadt stieß auf Unverständnis beim Landessozialgericht. Es verpflichtete die Behörde im Wege der einstweiligen Anhörung zur vorläufigen Leistung. Es sollten 4 Förderstunden pro Woche als Eingliederungshilfe gewährt werden.
Durch Maßnahmen der Eingliederungshilfe solle die Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft ermöglicht oder erleichtert werden. Es sollten dabei auch Kontakte zu nicht behinderten Menschen über die Familie hinaus gefördert werden. Art und Maß der entsprechenden Aktivitäten orientierten sich an den individuellen Bedürfnissen des Einzelfalls. Das vierjährige Kind sei aufgrund einer Sprachentwicklungsstörung wesentlich in seiner Teilhabefähigkeit eingeschränkt. Laut ärztlicher Stellungnahmen stoße das Mädchen mit der Mundmuskulatur an seine Grenzen.
Um die psychische Belastung für das Kind abzumildern, sei es äußert wichtig, die Gebärdensprache zu erlernen. Damit stünde ihr ein weiteres Kommunikationsmittel zur Verfügung. Auch nach Angaben der behandelnden Logopädin erlernten viele Kinder durch das Kommunizieren mit Gebärden schneller Sprechen. Auch die Unterstützte Kommunikation arbeite nicht nur mit körperfernen, sondern vielmehr auch mit körpereigenen Kommunikationsformen (Gestik, Mimik, Körperhaltung und Gebärden).
Das Gericht konnte nicht nachzuvollziehen, weshalb das (ergänzende) Erlernen der Gebärdensprache – im Gegensatz zu Unterstützter Kommunikation – die Sprachentwicklung hemmen solle. Dass im Kindergarten derzeit die Gebärdensprache nicht genutzt werde, sei ohne Belang. Im Rahmen der Eingliederungshilfe könnten auch Assistenzleistungen beansprucht werden, die – soweit geeignet und erforderlich – auch einen Gebärdendolmetscher bzw. eine Sprachassistenz umfassen könnten.
Quelle und Informationen: www.dav-sozialrecht.de