Menschenwürdige Existenz muss bedingungslos gesichert werden! Neue Argumente gegen das grund- und menschenrechtswidrige Sanktionenregime bei AMS, Mindestsicherung und PVA liefert der Europäische Gerichtshof der EU (EuGH) kurz nach der Aufhebung von Teilen der Hartz IV Sanktionen durch das deutsche Bundesverfassungsgericht und geht sogar weit darüber hinaus:
Der EuGH stellt fest, dass selbst bei groben Pflichtverletzung die menschenwürdige Existenz eines Menschen zu sichern ist.
Die Existenzgefährdung als Sanktion in Form einer Leistungseinstellung ist laut Urteil des EuGH mit Artikel 1 der Europäischen Grundrechtecharta (GRC) absolut unvereinbar: „Insoweit verlangt die Achtung der Menschenwürde im Sinne dieses Artikels, dass der Betroffene nicht in eine Situation extremer materieller Not gerät, die es ihm nicht erlaubt, seine elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie etwa eine Unterkunft zu finden, sich zu ernähren, zu kleiden und zu waschen, und die seine physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigt oder ihn in einen Zustand der Verelendung versetzt, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre.“ (Rz 46) Diese Existenzgefährdung darf laut EuGH nicht einmal „zeitweise“ gefährdet werden! In jedem Fall muss der Zugang zur medizinischen Versorgung und einen würdigen Lebensstandard möglich sein (Rz 45).
Weiter stellen die Europäischen Höchstrichter unmissverständlich fest, dass derart harte Sanktionen unverhältnismäßig sind, weil „selbst die härtesten Sanktionen zur strafrechtlichen Ahndung der von Art. 20 Abs. 4 dieser Richtlinie erfassten Verstöße oder Verhaltensweisen dem Antragsteller nicht die Möglichkeit nehmen können, seine elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen.“ (Rz 48)
Im konkreten Fall ging es um eine Sperre von 2 Wochen Grundversorgung für einen Asylwerber wegen des Vorwurfs der Beteiligung an einer Rauferei.
Sanktionen sind grundrechtswidrig und völlig unverhältnismässig!
Das AMS stellt bereits auf geringste, meist unbewiesene Vorwürfe durch Kursinstitute oder Unternehmen den Bezug von Versicherten für 6 oder 8 Wochen komplett einstellt. Und das noch vor Abschluss eines fairen Verfahren, beim dem die Beschuldigten Stellung nehmen konnten! Ein teilweiser Ausgleiche durch die Mindestsicherung ist nicht mehr möglich.
Bei Stellenbewerbungen reicht es schon, sich einen höheren Lohn oder andere Arbeitszeiten zu wünschen, oder den Arbeitsvertrag durch Gewerkschaft oder AK überprüfen zu lassen, um als angeblich „arbeitsunwillig“ für 6 oder 8 Wochen das durch die EMRK geschützte „vermögenswerte Recht“ (VfGH G 363/97 u.a.) der selbst einbezahlten Versicherung zu verlieren.
Das Ziel der Existenzsicherung ist in § 29 AMSG festgeschrieben. Die Menschenwürde ist über den Schutz der angeborenen Rechte nach Artikel 16 ABGB in der österreichischen Rechtsordnung verankert. Bei der Mindestsicherung hat der Österreichische Verfassungsgerichtshof schon mehrmals Mindestleistungen zur Existenzsicherung eingefordert und daher Verschlechterungen der Mindestsicherung aufgehoben! (z.B. G156/2018-28)
Soziale Rechte der Europäischen Grundrechtecharta haben für alle zu gelten!
Nach noch herrschender Lehre und Rechtsprechung soll die EU Grundrechtecharta in den EU Mitgliedsstaaten aber nur in jenen Rechtsgebieten direkt anwendbar sein, in denen die EU eine Regelungskompetenz habe. Eine derart beschränkt anwendbare „Grundrechtecharta“ wäre ein Betrug. Auch die bereits direkt rechtlich durchsetzbaren Grundrechte sind logischerweise nur dann wirksam, wenn als Grundlage zuerst einmal die menschliche Existenz und die Menschenwürde selbst geschützt werden!
Unverständlich bleibt, dass beim teilweise erfolgreichen Antrag des Bundesrates gegen das Sozialhilferahmengesetz dieser sich nicht auch auf Europäische Grundrechtecharta bezogen hat. Der EuGH zeigt nämlich die Tendenz das Anwendungsgebiet der Grundrechtecharta gerade auch in Sozialfragen auszuweiten!
Im an sich zumindest teilweise erfreulichen Urteil des Verfassungsgerichtshof vermeiden die Verfassungsrichter die Grundrechtecharta in Ihre Rechtsprechung einzubeziehen, selbst wo diese wenigstens zur Gesetzesauslegung sachlich relevant wäre!
Appell an die Regierungsverhandler: Grund- und Menschenrechte endlich voll umsetzen!
Aktive Arbeitslose Österreich fordern daher von den Regierungsverhandlern, den hartnäckigen und schon lange anhaltenden Widerstand von Politik, Verwaltung und Justiz gegen die Grundrechte der Bevölkerung endlich zu überwinden. Die massive Gewalt des „administrativen Massenverbrechens“ das AMS, Sozialamt, PVA usw. mit der allgegenwärtigen Existenzbedrohung ausüben, ist mit den Grundwerten der Demokratie und Menschenrechte unvereinbar. Es ist eine Verhöhnung der Versicherungs- und Steuerzahler*innen, wenn wir als Zahler*innen von der eigenen Versicherung, vom eigenen Staat, im Notfall, wenn wir auf die von uns selbst einbezahlten Gelder angewiesen sind, entrechtet und wie Verbrecher behandelt werden!
Gerade von den Grünen, die sich gerne als Menschenrechtspartei bezeichnen, vermissen Aktive Arbeitslose Österreich leider schon seit Jahren ein lautstarkes Auftreten gegen die massive Gewalt, die mitten unter uns tagtäglich vielen unserer Mitmenschen angetan wird. Grund- und Menschenrechte müssen in einer rechtsstaatlichen Demokratie wichtiger sein als die Geschäftsinteressen der Armutsbranche (AMS-Kurse, zweiter Arbeitsmarkt) und der Ignoranz der Bürokratie!
Aktive Arbeitslose Österreich fordern:
– Schluss Existenz und Menschenwürde gefährdenden Sanktionen!
– Keine Sanktionen – welcher Art auch immer – vor Abschluss eine fairen Verfahrens, in dem auch eine unabhängige Rechtsberatung und Rechtsvertretung (Arbeitslosenanwaltschaft) gewährleistet ist.
– Wiedergutmachung von Schäden, die durch das grund- und menschenrechtswidrige Sanktionenregime angerichtet werden. Spezielle, kostenlose Therapieangebote für Opfer der strukturellen Gewalt!
– Grund- und Menschenrechtliche Nachschulung von Mitarbeitenden in Verwaltung und Justiz, damit die Grundsätze der Grundrechtecharta und die EuGH-Rechtsprechung auch überall umgesetzt werden!
Aufnahme der Europäischen Grundrechtecharta in die Österreichische Bundesverfassung.
Weitere Informationen:
EuGH Urteil C‑233/18:
http://curia.europa.eu/juris/document/document.jsf?text=&docid=220532&doclang=DE
Verfassungsblog: Existenzminimum nach Luxemburger Art
Verfasungsblog: Acht Gedanken zum Hartz-IV-Urteil des Bundesverfassungsgerichts:Verhältnismäßigkeit bei der Menschenwürde?
VB vom Blatt: Acht Gedanken zum Hartz-IV-Urteil des Bundesverfassungsgerichts
Bundesverfassungsgericht: Hartz-IV-Sanktionen teilweise aufgehoben!
Quelle: Presse Aktive Arbeitslose Österreich